Was ist Fatigue? Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?

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Interview mit Prof. Dr. med. Michael H. Schoenberg

Prof. Dr. med. Michael H. Schoenberg war lange Jahre Chefarzt der Chirurgischen Klinik und ärztlicher Direktor des Rotkreuzklinikums in München. Er engagiert sich sehr im Bereich Tumortherapie und Prävention durch Sport. Zu diesem Thema erschien 2016 sein Buch „Aktiv leben gegen Krebs“.

was-essen-bei-krebs.de (webk): Was genau versteht man unter Fatigue?

Prof. Dr. med. Michael H. Schoenberg: Fatigue ist ein Begriff aus dem Französischen und bedeutet Müdigkeit, Mattigkeit und ein andauerndes Gefühl der Erschöpfung. Ist dieser Zustand durch eine Krebserkrankung ausgelöst, spricht man von einer „krebsinduzierten Fatigue“.
David Cella, ein amerikanischer klinischer Psychologe, definierte diesen Zustand bereits im Jahr 1995 wie folgt: »Die Tumorerschöpfung, auch ›Fatigue‹ genannt, bedeutet eine außerordentliche Müdigkeit, mangelnde Energiereserven oder ein massiv erhöhtes Ruhebedürfnis, das absolut unverhältnismäßig zu vorangegangenen Aktivitäten ist.«

webk: Woran erkennt man eine Fatigue?

Schoenberg: Die Fatigue hat zunächst eine körperliche Dimension. Sie ist geprägt durch ein vermehrtes Bedürfnis nach Ruhe trotz ausreichender Erholungs- und Schlafphasen. Zu diesen körperlichen Beschwerden kommt noch eine seelische Komponente hinzu. Patienten mit Fatigue sind häufig antriebslos, schlecht zu motivieren und erscheinen depressiv. Eine Negativspirale setzt sich in Gang, die Probleme verstärken sich gegenseitig. Wer müde ist, bewegt sich naturgemäß weniger. (Muskel-)Schwäche und Mattigkeit nehmen zu und der Betroffene wird immer inaktiver und verharrt in einer Art »Schonhaltung«. Die Patienten sind häufig unkonzentriert und haben sogenannte Wortfindungsstörungen, also Schwierigkeiten, den passenden Ausdruck zu finden. Solche »Aussetzer« können den Betroffen verunsichern und zu einem sozialen Rückzug führen.

webk: Sie waren selbst bereits von Fatigue betroffen. Wie haben Sie sie erlebt?

Schoenberg: Während der Tumortherapie, oder nach Bestrahlung oder Chemotherapie, ist man plötzlich aber auch langanhaltend mit einer extremen Mattigkeit konfrontiert. Es ist als ob einem „der Stecker herausgezogen wurde“. Alles fällt einem schwer und auch wenn man vor der Erkrankung sportlich aktiv und fit war, hat man jetzt wirklich Angst ein Stockwerk nach oben zu gehen. Oben angekommen schnauft man, als wenn man eine anstrengende Bergtour hinter sich hat. So ist es mir während einer Chemotherapie ergangen und man fragt sich unwillkürlich, ob man nach erfolgreich überstandener Behandlung sein altes aktives Leben wiederaufnehmen kann.

webk: Ist es nicht normal, dass man von den Therapien erschöpft ist?

Schoenberg: Viele Patienten sind sich nicht bewusst, dass diese extreme Mattigkeit eine Erkrankung ist und eben nicht nur die unvermeidlichen Auswirkungen einer anstrengenden Krebstherapie, die man hinnehmen muss. Auch von vielen Ärzten wird das Krankheitsbild erst seit kurzem in ihrer ganzen Breite wahrgenommen – als häufige Beschwerden von Krebspatienten und -überlebenden.

webk: Fatigue wird also nicht ernst genug genommen?

Schoenberg: Ja. Wie sehr die Auswirkungen der Fatigue selbst von Ärzten unterschätzt werden, zeigt eine holländische Untersuchung. In dieser Studie litten 40 Prozent der Patienten unter Fatigue-Symptomen. Unter Chemotherapie waren es sogar 80 Prozent, unter Strahlentherapie 90 Prozent der Patienten. 52 Prozent der Betroffenen empfanden die Fatigue quälender und belastender, als Schmerzen. Für die behandelnden Ärzte war das eine Überraschung: Sie waren der Meinung, dass der Schmerz im Vordergrund stehen würde und höchstens 5 Prozent ihrer Patienten die Fatigue als besonders einschränkend empfinden würden.

webk: Wann tritt eine Fatigue auf und wie lange hält sie an?

Schoenberg: Das kann individuell sehr verschieden sein. Eine akute Fatigue, die während oder kurz nach den Krebstherapien auftritt, bessert sich bei den meisten Patienten innerhalb von etwa drei Monaten nach dem Ende der Behandlung.
Dann gibt es aber noch die chronische Fatigue. Oft Jahre später und obwohl die Krankheit längst überwunden scheint –, leiden immer noch zwischen 33 und 53 Prozent der Patienten an großer Erschöpfung und ähnlichen Symptomen. Die Betroffenen vermuten in der Regel, dass die rasche Ermüdbarkeit mit ihrer Verunsicherung, ihren Ängsten und der gefühlten Perspektivlosigkeit zu erklären ist, ein Zusammenhang mit der ursprünglichen Erkrankung und anstrengenden Therapie wird sowohl von Patienten und Ärzten nicht erkannt.
D.h. der erste Schritt zur erfolgreichen Behandlung von Fatigue ist es, um diese Erkrankung zu wissen und rasch zu (be-)handeln.

webk: Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?

Schoenberg: Einen generell geltenden Therapieansatz für alle Patienten, die an Fatigue leiden, gibt es nicht. Es kann ihn auch nicht geben, denn die Behandlung richtet sich ganz nach den persönlichen Problemen und der speziellen Situation des Patienten.
Vielversprechend sind bei vielen Patienten psychotherapeutische Verfahren, vor allem verhaltenstherapeutische Maßnahmen in Einzel- oder Gruppengesprächen. Sie sollen dem Patienten helfen, sich selbst zu helfen. Das heißt, die Therapeuten versuchen, die Betroffenen mit Methoden vertraut zu machen, die es ihnen ermöglichen, die psychischen Beschwerden zu überwinden oder abzumildern. Durch die Behandlung ist es möglich, die typischen Symptome wie Mattigkeit, depressive Gedanken, Schlafprobleme, Motivations- und Konzentrationsschwierigkeiten nicht nur akut zu lindern, sondern im weiteren Krankheitsverlauf ein Wiederauftreten zu verhindern.
Verschiedene Untersuchungen beschreiben auch positive Auswirkungen von körperlicher Aktivität auf physische und psychische Fatigue-Beschwerden. Studien zeigen, dass moderate körperliche Betätigung die Symptome um über 60 Prozent im Vergleich zu inaktiven Patienten reduzierte. Der Effekt war umso stärker, je früher mit dem Training begonnen wird. Eine Erkenntnis, die abermals belegt, wie wichtig ein entsprechendes Bewusstsein für dieses Krankheitsbild und eine frühzeitige Diagnostik bei Fatigue ist.

webk: Kann man immer Sport treiben bzw. körperlich aktiv sein?

Schoenberg: Wer Fatigue an sich erlebt hat, weiß, dass es Tage gibt, in denen Sport oder jegliche Form von Training völlig unmöglich erscheinen . Es hat meines Erachtens auch an diesen Tagen keinen Sinn sich zu etwas zu zwingen. Ich sage meinen Patienten: „Bitte versuchen Sie nicht den sogenannten „inneren Schweinehund“zu besiegen, sondern freunden Sie sich mit ihm an. Wenn Sie zu schwach sind, hören Sie auf Ihren Körper. Wenn Sie sich wieder etwas besser fühlen, versuchen Sie sich langsam und moderat zu bewegen, z.B. Spaziergänge, selbst wenn sie nur kurz sind“.

webk: Gibt es neben körperlicher Aktivität und verhaltenstherapeutischen Maßnahmen noch weitere Möglichkeiten, Fatigue entgegenzuwirken?

Schoenberg: Aus meiner eigenen Erfahrung sollten Sie Entspannungstechniken nicht nur bei Übelkeit und Erbrechen, sondern auch bei Fatigue ausprobieren. Geeignete Entspannungsübungen wären beispielsweise Yoga, Tai-Chi, autogenes Training oder progressive Muskelentspannung. Solche Übungen helfen, „herunterzukommen“, das Gedankenkarussell im Kopf eine Zeit lang auszuschalten und Ruhe zu finden, wobei jeder Patient selbst entscheiden muss und kann, welche Techniken für ihn/sie am geeignetsten sind.

Zusammenfassend lässt sich zur Behandlung des sehr komplexen Krankheitsbildes Fatigue feststellen:

  • Fatigue ist für viele Tumorpatienten ein relevantes Problem, insbesondere, wenn sie eine anstrengende Chemo- und/oder Strahlentherapie erhalten.
  • Wenn man sich der Erkrankung bewusst ist und seine Beschwerden mit den behandelnden Ärzten bespricht, ist ein erster Schritt in Richtung Besserung schon getan.
  • Die Therapie muss sehr individuell gestaltet, der Erfolg der Behandlung in regelmäßigen Abständen kontrolliert werden.
  • Psychotherapeutische Unterstützung, körperliche Aktivität, aber auch Entspannungsübungen wie Yoga, Meditation etc. sind sehr gute Strategien, um die Beschwerden zu verringern.
  • Bei der Bewältigung der schwierigen Lebensphase ist ein mitfühlender Partner, der in die Behandlung mit einbezogen wird, von großem Wert.

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